Ich bin mit Alessandro Gasbarri vor zwei Jahren, im Sommer 2013, zusammengetroffen. Als autodidaktischer Künstler mit klassischem Studienhintergrund, kurz vor der Abschlussprüfung in den Rechtswissenschaften stehend, hatte er seine erste Einzelausstellung in den Innenräumen eines alten Stadttores aus dem 16. Jahrhundert in Velletri, dem 40 km von Rom entfernten Städtchen in Latium, wo er lebt und arbeitet. Durch diese erste Ausstellung („Phänomenologie des Zuhörens und Dekonstruktion der Zeit: Metall und Gedanken) führte mich Alessandro zwischen alten rostüberzogenen Gegenständen, Frucht eines ganz persönlichen Rückgewinnens, um die herum das in existenzielles Erleben verflochtene Echo von Erzählungen pulsierte, welche der junge Künstler entwickelte und die unseren Rundgang zwischen den Werken begleiteten.
Meine erste Reaktion war Verwirrung: Konnte man in der Kunst weiterhin ohne jede Vermittlung ein beliebiges Objekt in den Mittelpunkt stellen, hundert Jahre nach dem Sündenfall der gesamten zeitgenössischen Kunst, dem “Fahrrad-Rad” von Marcel Duchamps auf der Armory Show in New York, und nach den unzähligen Völlereien mit denen uns die konzeptuelle Kunst seit den Sechzigern vollgestopft hatte? Die Welt Gasbarris bildete sich aus wieder zusammengesetzten Propellern, ausgedienten Trittbrettern, Brückenwaagen, für die gemeinschaftlichen Mahlzeiten der Bauern verwendeten Holztellern, Tischlersägen, Anhäufungen kraftvoll ineinander montierter Hufeisen, und noch immer weiteren Eisenstücken, verrostet, verbogen und wiederbearbeitet. Und doch schien es mir als ob ein geheimes Leben in jenen Gegenständen pulsierte, von neuem ans Licht gebracht und begleitet von Erzählung. Was gab diesen Gegenständen ihren Sinn zurück, Gegenständen, deren Funktion selbst ins Vergessen geraten, aus der Erinnerung gelöscht war, die allenfalls in einem Museum für bäuerliche Kultur enden mochten, dem Traum der gesamten italienischen Linken in den siebziger Jahren?
Als ich die Ausstellung verlassen hatte und über das Gesehene nachgrübelte wurde mir klar, dass sich die Poetik Gasbarris in ihrem Kern um eine folgerichtige Dialektik herum aufbaute: den tagtäglichen Gebrauch und das ewige Außer-Gebrauch-sein, dem dieselben Gegenstände entgegengehen. Alessandro tritt ein in diesem Raum zwischen zwei Polen, findet in der Symbolkraft der Dinge die Argumente eigener Erörterung wieder. Angelpunkt seiner Nachforschung ist der deutsche Begriff des „Aufhebens”, des „Überwindens im Bewahren“, verstanden als Wiedergeburt aus Konservierung (des ausgedienten Gegenstands) von etwas nunmehr Verwandelten (dank seinem in unerwarteter Weise erneutem Ins-Spiel-Bringen). In dieser Operation besteht die Möglichkeit einer Errettung, eines Wegs über den das Bewahren der Erinnerung jenes Gegenstands machbar wird durch Neuzusammensetzung als Metapher, durch Bedeutungsverschiebung.
Alessandro nimmt eine „Scifa“, den Holzteller auf dem die Weinbauern ihre gemeinsame Mahlzeit anrichteten, und ordnet auf ihm rotlackierte Elektroden an, unbeweglich wie bei einer unvermittelten Auszeit beim „Shangai“-Spiel. Will er die tausend möglichen Richtungen des unendlichen Raums nachahmen? Leitlinien der Gedankenfunktion suggerieren? Der Interpretationsspielraum bleibt offen, doch das vom Titel aufgedrückte Siegel („Deduktive Schifa“) bekräftigt die konzeptuelle Operation: Ein antiker Gebrauchsgegenstand ist zum Instrument des Nachdenkens im Heute geworden, es ist ihm gelungen uns “am Zuhören” seiner Wesenheit zu halten, die nun nicht mehr einer lediglich erinnerten Zeit angehört. Es ist in dieser Untersuchung, wie aus dem „Mechanismus aus fernen Zeiten“ zu ersehen, ein verborgener Wille vorhanden zur Rückerstattung der uns umgebenden mysteriösen Schönheit des Unbeseelten, und zugleich dazu, in den Objekten (jenem Propeller, der sich aufschraubt und darin die endlose Spirale suggeriert) das Symbolbild aufzufinden, welches die ewigen Mechanismen von Zeit und Raum enthüllt. Diesen Hervorbringungen mangelt es nicht an starkem sozialkritischen Bewusstsein, wie bei dem Käfig, welcher die „Rekonditionierten Sklaven” einkerkert, Menschen von heute, gefangen im Netz des medialen Konsensinstrumentariums und dem alles durchdringenden Gesetz des Profits, oder bei der metallenen Komposition „Die Wunde“, wo eine Waage die menschlichen Züge eines in ewiger Marter an eine eiserne Rutsche geketteten Prometheus annimmt. Andere Male beziehen die assemblages ihre Bedeutung direkt aus der Werkbetitelung, welche eine Erweiterung von Sinn und Absicht suggeriert: so im Fall vom „Potestativeisen“, in dem die Tyrannei der heutigen, das Zuhören zugunsten des Visuellen hinweggefegt habenden, Kommunikationsmechanismen versinnbildlicht wird.
Dieser ersten Werkschau in Velletri, wiederholt im „MOCA Studio di Architettura“ in Rom, mit gutem Anklang beim „partizipierenden“ und mit dem Autor dialogisierenden Publikum sowie der Würdigung durch den Philosophen Tullio Gregory, folgt im Oktober 2014 eine neue Ausstellung in den Räumen der Scuderie Aldobrandini der Stadt Frascati. Hier hat Gasbarri, und zwar nicht bloß räumlich, seine Nachforschungen mittels Installationen in größerem Maßstab erweitert.
Im „Salon des fünften Mittelfußknochens“ zeigt der Künstler die visuelle Zustandsevolution eines verletzten Fußes mittels der Inszenierung von Röntgenaufnahmen auf großen Tafeln, welche, ausgehend vom Ursprungstrauma, Monat für Monat das progressive Wiederzusammenwachsen des gebrochenen Körperglieds wiedergeben. Eine Reflexion über den Schmerz, zugleich scharfsichtig und tiefschürfend, sowie die Zunichtemachung seines möglichen Sinngehalts, den die heutige Gesellschaft betäubt durch den Salon der Spektakulisierung: Das Leiden ist ein notwendig zu durchquerendes Stadium im zur Heilung führenden Viatikum („Okklusivverband“).
In „Zyklisch“ ist das Metallgewirr in einem auf eine Drehscheibe montierten Geist-Trichter vielleicht der Leitfaden jener „unehrlichen Gedanken“, die uns von der Via Maestra der Leidenschaften abbringen und unser Leben der Routine überantworten. „Evolution in Defäkation“ präsentiert am Endpunkt eines vielfach gegliederten Röhrenpfads als Ergebnis eben dieser Aufgliederung ein auf Exkremente anspielendes Häufchen Erde“: dasjenige, welches täglich übrig bleibt, von unserem Körper hervorgebracht als Aussonderung, am Schluss komplexer Operationen, auf welche sich unsere unaufhörliche Evolution stützt. In „Dreifache Dynamik, neunfaches Bewusstsein” schließen alte Fassreifen, von außerordentlicher Schönheit in ihrem seriellen Zusammenschluss, einen Elektroofen ein. Sind sie das neunfache Bewusstsein, welches unsere Energie daran hindert, sich vollständig in Liebe, in Angst, in Schicksal zu offenbaren?
Und weiter noch: Die Reflexion Gasbarris, vom Schmerz gezeichnet, langt an bei informeller Malerei: in der chromatischen Explosion der drei Gemälde „Soziale Hypochondrie. Das Gute, Das Böse, Der Krieg” (letzteres großartig gelungen), wo er mit dem bemerkenswerten Ausdruckspotential von in der Medizin benutzten pharmazeutischen Färbmitteln experimentiert; in der Potenz des von Ruß und Altöl gesättigten Schwarz („Träumerische Erzählung“), das an die schwarzen „endlosen“ Wirbel von Alberto Burri erinnert; im fast spielerischen Charakter des Zeichens in „Die Lösung. Geographie einer Bewegung“, wo er durch Benutzung von Stempeltinte auf Löschpapier ein im Resultat an gewisse Arbeiten Twomblys erinnerndes grafisches Gerüst schafft; in der Schönheit als Ergebnis eines Zufallsprozesses, der sich in „Leichtfertigkeit“ im Gewand eines auf der Straße gefundenen Lappens darbietet.
Der letzten Installation “Spezialtransport eines regenerierten Bewusstseins” vertraut Alessandro Gasbarri seine abschließende Botschaft an: Ein erneuertes Bewusstsein, worauf ein Gummireifen auf einem Karren anspielt, ist nur möglich durch ein „Achthaben” auf sich selbst, die anderen, die Welt. Körper und Seele schützend und sublimierend vor und gegenüber der Agonie des Benutzens, Konsumierens und Wegwerfens. Dies Bewusstsein kennzeichnet wahrhaftig den „Spezialtransport“ hin zur Regeneration.
So, wie die einer verlorengegangenen Welt zugehörigen Gegenstände sich in der Erinnerung nur dadurch bewahren, dass sie zu etwas anderem werden, so – scheint die Sprachwelt Gasbarris es auszudrücken – können von der Gesellschaft hervorgebrachtes Unbehagen und verursachter Schmerz angenommen und geheilt werden. Benutzt werden für die Wiedergeburt. Überwunden werden im Bewahren.
Marco Nocca
Prof. Akademie der Schönen Künste in Rom